Rückschau
„Du, Opa Fritz, du bist ja jetzt über achtzig und im nächsten Jahr habt ihr den 60.sten Hochzeitstag. Wie fühlt sich das eigentlich an, wenn man so alt ist?“
„Werner, ja, ich frag mich schon des Öfteren, ob ich die Gummischuhe so langsam an den Nagel hängen muss. Weißt du, das Springen geht ganz schön auf den Rücken. Und überall um uns rum ist Krieg und Chaos, da vergeht einem sowieso die Lust auf Abenteuer. Denn zack erwischt es dich und du sitzt wie damals der Freiherr von Münchhausen auf einer Kanonenkugel und landest in Feindesland und wirst als Spion verhaftet.“
„Ach, Opa, die ganz ganz alten Geschichten will ich nicht mehr hören. Die hast du schon zu oft erzählt. Erzähl mir lieber von wo du noch jung warst und den Mädels unter den Rock geguckt hast!“
„Aber Werner, so etwas war damals nicht angesagt. Wir waren – wie man sagte – noch züchtig. War auch zu gefährlich, weil die Fräuleins nur gemeinsam mit einer sogenannten Anstandsdame unterwegs sein durften. Die Zeiten waren anders.“
„Und wie habt ihr euch denn kennengelernt, Opa?“
„Weisst du, Werner, mein Vadder, für dich dein Uropa Wilhelm, hatte mir damals gesagt: Junge, es wird jetzt Zeit, dass du deinen eigenen Hausstand gründest. Schau dich auf der nächsten Kirchweih um, wen du als deine zukünftige Hausfrau wünscht, und ich berede dann mit ihren Eltern das Datum und wichtige Fragen der Aussteuer.“
„Aussteuer, was ist das denn, Opa?“
„Ja, damals war es üblich, dass die Braut Hausstand in der Form von kompletter Tisch- und Bettwäsche mit beisteuern musste und ihre Eltern für die Kosten der Hochzeit aufzukommen hatten. Nach der schillernden Kirchenzeremonie mit Lisette bin in die Firma meines Schwiegervaters eingetreten, dein Vater Walter wurde geboren. Zwei Jahre später der erste Welt-Krieg, und ich wurde eingezogen.“
(299 Worte)



Wenn man da mehrere Töchter hatte, musste man früh anfangen zu sparen, wenn man die alle gut verheiraten wollte.
Klingt nicht so, als ob die jungen Leute viel Gelegenheit gehabt hätten, sich kennenzulernen, oder? Und damit meine ich durchaus nichts Unsittliches. Gelobt seien die Brüder, die für ihre Freunde eventuell ein gutes Wort einlegen konnten …
Danke dir für die Etüde, lieber Werner. Noch eine Facette Frauenleben!
Abendgrüße 🎶🛋️🍵
Die Sache mit der Aussteuer war auf dem Lande immens wichtig, da war Heirat ohnehin mehr auf Geschäftsinn basiert als auf Zuneigung. Das eine war notwendig, das andere eine nette Dreingabe, oder man kam von einem Elend ins andere. Frauenrechte waren weder weltlich noch kirchlich vorhanden. Im Grunde war es damals, und das wird oft ausser Acht gelassen, bei den weniger wohlhabenden Leuten, die sich kein Personal leisten konnten, ein Fortschritt, wenn die Arbeitsteilung erlaubte, dass eine sich nur um den eigenen Hausstand zu kümmern brauchte und nicht auch noch zusätzlich sich zuerst anderswo abzuarbeiten, bevor alles andere ja trotzdem getan werden musste. Ob Mann und Kinder dabei in Haus und Garten mit angepackt haben, ist dabei irrelevant. Es war zu Beginn des 20. Jahrhunderts, also zu Zeiten deines Opas (und meiner Oma) überhaupt keine Frage, wie wertvoll es war, wenn die Eheleute jeder nur einer Arbeitsstelle nachkommen mussten, statt wie früher in der bäuerlichen Gesellschaft auf dem Lande, im damaligen deutschen Osten sogar länger als sonstwo in Deutschland, immer zuerst den Grund- bzw. Gutsherren mit ihren Leistungen bedienen zu müssen.
Da gebe ich Dir Recht, „nur“ für das Haus dazusein war sicherlich ein Fortschritt, damals. Und hatte eine große Akzeptanz. Die Crux war eigentlich nur, dass es nicht umgekehrt, also Frau als Ernährerin, sein durfte, weil sonst die Wertschätzung des Mannes in Frage gestellt gewesen wäre und die ganze kirchliche und politische Struktur dazu. Aber daran zwacken wir ja heute noch dran.
Richtig, das ist besonders in der Nachkriegszeit deutlich geworden, wo die Frauen, die kriegsbedingt über ein Jahrzehnt vollkommen slbetverständlich alle Berufe ausüben konnten, den Heimkehrern die Plätze räumen mussten und noch dazu auf Zehenspitzen um die traumatisierten und in ihrem Stolz überempfindlich gewordenen Seelen herumlavieren mussten.
(Und über den fortwährenden Einfluss der religiösen Zuweisungen und Fortschrittsverweigerungen bekomme ich sowieso Wallungen.)
Da walle ich mit Dir!
👍🏻